Berlin, den 31.08.2021, Autor: Matthias Ilgen
Die aktuellen Zahlen der Umfrageinstitute bestätigen, was mancher Politikwissenschaftler seit 12 Monaten sagte, aber noch bis vor vier Wochen die Lacher des gesamten Publikums erntete: Die SPD kann die Bundestagswahl noch gewinnen. In der politischen Stimmung hat sie die Union mindestens eingeholt und die Grünen deutlich hinter sich gelassen. Hält dieser Trend weiter an, wirkt er sich in den nächsten Tagen und Wochen noch stärker auf die Projektion zur Sonntagsfrage aus – je näher der Wahltag rückt, desto wahrscheinlicher werden daraus auch reale Stimmen.
Woher kommt der plötzliche „Genosse Trend“? Die Ursache liegt vor allem in der Kandidatenfrage, die immer noch für mehr als ein Drittel der Wählerinnen und Wähler die maßgebliche und entscheidende für ihre eigene Wahlentscheidung ist: Wer soll Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland sein?
Seit der ersten Bundestagswahl 1949 spielte diese Frage eine entscheidende Rolle. Adenauer hatte sich als Vorsitzender des parlamentarischen Rates in Rundfunk und Presse in Szene gesetzt und konnte mit den Unionsparteien überraschend den damals von allen Seiten erwarteten Wahlsieger hinter sich lassen: die SPD. Dies mündete in einer 20-jährigen Dauerherrschaft von CDU und CSU im Bund. Adenauer konnte 1957 auf dem Höhepunkt seiner Macht die Union mit dem Slogan „Keine Experimente“ sogar zur absoluten Mehrheit führen. Die Union verlor die Macht 1969 erst als sie mit zwei weit weniger beliebten Kanzlern nach einer großen Koalition, aus welcher die SPD als Profiteur hervorging, einer neuen sozialliberalen Regierungsmehrheit gegenüberstand.
Auch die SPD-Kanzler Brandt und Schmidt profitierten davon, dass sie sich in ihren Beliebtheitswerten weit von Ihrer Partei absetzen und so in den 70er Jahren die Mehrheiten für die sozialliberale Koalition sichern konnten. 1980 fiel der sogenannte Kanzlerbonus kurioserweise der FDP zu, die sogar dreist mit Schmidts Namen auf ihren Wahlplakaten geworben hatte. Entsprechend verloren die Liberalen bei den vorgezogenen Neuwahlen zum Bundestag 1983 beinahe die Hälfte Ihrer Mitglieder und Wähler, nachdem sie im Oktober 1982 in der laufenden Wahlperiode die Seiten zur Union gewechselt und Schmidt gestürzt hatte, um Helmut Kohl ins Amt zu bringen.
Auch Kohl schlug vier sozialdemokratische Herausforderer in die Flucht. Erst als der deutlich beliebtere Gerhard Schröder nach 16 langen Jahren und einer mauen Arbeitsmarktbilanz der christlich-liberalen Regierung nach der Wiedervereinigung antrat, zogen er und die SPD an Kohl und der Union vorbei. 2002 war es neben dem Themen-Endspurt um Flutkatastrophe und Irak-Krieg zugunsten der Regierung vor allem die Person des Kanzlers, welche der SPD ihren hauchdünnen Sieg über die Ziellinie rettete. 42% der SPD-Wähler gaben an, die Partei vordringlich wegen der Person des Bundeskanzlers gewählt zu haben – Schröders Beliebtheit war in etwa doppelt so hoch wie die seines CSU-Herausforderers Edmund Stoiber, dem auch sein Kompetenzvorsprung in Wirtschaftsfragen am Ende nichts zu nützen vermochte.
2005 hatte Angela Merkel vor allem wegen der nach wie vor hohen Sympathien für den damaligen Amtsinhaber Gerhard Schröder die Wahl fast auf den letzten Metern doch noch verloren. Die Union schwebte Monate lang im Umfragehoch, weil Rot-Grün bis dahin nur eine durchwachsene Regierungsbilanz vorzuweisen hatte. Dennoch punktete der Kanzler ein letztes Mal mit seiner Persönlichkeit und holte einen von professionellen Beobachtern als praktisch für uneinholbar gehaltenen Rückstand noch ein – diesmal auch ohne Flut und Irak-Krieg. Am Wahltag lag die SPD nur noch 1% und ganze 4 Mandate hinter den Unionsparteien.
Seit 2009 dann hatte Merkel den Kanzler-Bonus auf Ihrer Seite und münzte ihn immer in den nötigen Stimmenvorsprung für die Union am Wahltag um. Aber dieses Mal tritt erstmalig in der Geschichte der Bundesrepublik kein Amtsinhaber mehr an. Das Rennen ums Kanzleramt ist auch deshalb offen wie nie zuvor. Lange zogen ihre mageren Kompetenzwerte die SPD als Partei in den Umfragen nach unten. Die Corona-Krise schob sich wie eine Mauer vor alle anderen politischen Themen – und solange die Bundesregierung sie gut zu managen schien, dienten es die Bürgerinnen und Bürger vor allem der Kanzlerin und ihrer Partei mit einem neuen Höhenflug in den Umfragen.
Als das Pendel umschlug, profitierten zunächst die Grünen als Oppositionspartei, die sich schon länger im allgemeinen Aufwind befanden. Insbesondere als CDU und CSU den Machtkampf um Merkels Nachfolge auf offener Bühne austrugen und der in der Bevölkerung deutlich unbeliebtere Armin Laschet sich gegen den populären Markus Söder durchsetzen konnte, während die Grünen die Machtfrage – für sie ganz untypisch – im Hinterzimmer auskungelten und Annalena Baerbock nominierten, schienen sie für viele Menschen als eine wählbare, professionelle Alternative zum gefühlten Dauerabonnement der Unionsparteien auf das Kanzleramt.
Allerdings verstolperte die grüne Hoffnungsträgerin weitestgehend durch eigene dumme Fehler diese Sympathien auch gleich wieder, so dass sich das Publikum erneut der Kanzlerpartei zuwendete. Mit jedem Tag allerdings, den Armin Laschet öffentlich auftritt, sinken seine persönlichen Umfragewerte. Mit seinem unerklärlichen Lacher-Ausfall während der Flutkatastrophe stürzten sie dann praktisch ins Bodenlose. Seither legt Scholz in den Umfragen nun gewaltig zu und führt bei der Kanzlerpräferenz deutlich vor seinen beiden Mitbewerbern. Inzwischen zieht er damit auch die SPD aus ihrem Dauer-Tief nach oben – was nur noch wenige professionelle Beobachter öffentlich zu glauben wagten.
Wenn er die Stimmung halten kann und es vermag, seine Partei und ihre Unzulänglichkeiten weiter gut zu verstecken, dann kann er tatsächlich noch die Wahl gewinnen und die SPD zur stärksten Fraktion im Bundestag machen. Insbesondere die eher unpolitischen Wähler, gehören zu jenen bis zu 40%, die sich stark an der Kandidatenpräferenz orientieren und oft eher die Unentschlossenen sind, welche sich tatsächlich erst in den letzten Wochen und Tagen vor der Wahl entscheiden, welcher Partei sie ihre Stimme tatsächlich geben werden. Dieses Phänomen war für die SPD bei allen letztendlich doch noch gewonnen Landtagswahlen der vergangenen Jahre im Übrigen ebenso zu beobachten: Der Ministerpräsident oder die Ministerpräsidentin gaben den Ausschlag für einen auf den letzten Metern sehr deutlichen Wahlsieg – obwohl Umfragen monatelang praktisch das Gegenteil prognostiziert hatten.
Ob ein SPD-Wahlsieg tatsächlich eintreten kann oder das gegenwärtige Momentum doch wieder nachlässt, wird nicht zuletzt von den TV-Duellen der drei Kanzleramtsbewerber abhängen. Festigt sich das Bild von Scholz als „bester Mann für den Job von Frau Merkel“ und überstrahlt er die mittelprächtige Kompetenz seiner Partei und ihres sonstigen Führungspersonals, wird er am Ende wirklich gewinnen. Gelingt es der Union und den Grünen Themen- und Kompetenzfragen ausreichend positiv gegen die SPD zu besetzen, ist es wahrscheinlicher, dass die Werte der Sozialdemokraten wieder in sich zusammenstürzen. Es kommt entscheidend darauf an, wer nach den TV-Auftritten von welchen Wählerschichten welche Kompetenzen und welche Führungsstärken zugesprochen bekommt.
Nichtsdestotrotz hängt die Frage, wer am Ende wirklich Bundeskanzler/in wird, auch ganz entschieden von den möglichen Koalitionsmehrheiten im Bundestag ab. Bislang sieht es so aus, als würde diesmal der FDP die Rolle des Königsmachers zufallen.