Durchregieren oder Blockade – wie wirkt sich der Bundesrat auf die kommende Regierung aus?

Bundesrat-Plenum

Berlin, den 11.10.2021, Autor: Tilo Fuchs
Foto: Bundesrat

Eine Bundesregierung braucht eine Mehrheit – und das nicht nur im Bundestag. Denn im föderalen System haben auch die Länder über den Bundesrat ein Wörtchen mitzureden. Ein Blick auf die Zahlen ergibt hier ein etwas Euphorie-bremsendes Bild für die werdende Ampel.

Aufbruch im Bund…

Das Ergebnis der Bundestagswahl am 26.9. war knapp, doch wird aller Voraussicht nach auch für die 20. Wahlperiode eine Koalition gebildet, die gemeinsam eine Mehrheit der Abgeordneten stellt. Minderheitsregierungen mit wechselnden Mehrheiten sind in der politischen Kultur der Bundesrepublik ganz offenbar kein besonders geschätztes Konzept – gesucht wird die stabile Mehrheit für vier Jahre.

Das ist auch das Ziel der Verhandelnden auf dem Weg zur erstmals ins Auge gefassten Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP. Denn nur so lässt sich sicherstellen, dass auch die Kabinettsmitglieder aus den kleineren Parteien eine echte Gestaltungschance haben, dass eine im koalitionsvertrag vereinbarte Balance gehalten und dass die gemeinsam festgelegte Agenda umgesetzt wird. Der Aufbruch im Bund braucht eine solide Basis.

…Bremse aus den Ländern?

Laut Art. 50 Grundgesetz wirken die Länder über den Bundesrat an der Gesetzgebung des Bundes mit. Diese Mitwirkung hat – neben der Konsultation der Institution am Beginn eines Gesetzgebungsverfahrensgemäß Art. 76 Abs. 2 GG – zwei Formen: Die Möglichkeit des Einspruchs oder das Erfordernis der Zustimmung nach Art. 77 Abs. 2 GG zu den legislativen Plänen der Bundesregierung und des Bundestages. Im ersteren Fall können die Länder eine Kompromisssuche erzwingen, ihre Bedenken am Ende aber auch vom Bundestag überstimmt werden. Im zweiten Falle ist Kooperation Pflicht – ohne Akzeptanz der Ländermehrheit kein Bundesgesetz.

Gedacht war das Mitbestimmungsrecht der Länder vor allem dazu, die gleichmäßige Berücksichtigung der Interessen aller Länder sicherzustellen und um eine übermäßige Zentralisierung zu verhindern.

Der Blick in die nicht allzu ferne Vergangenheit zeigt aber: der Bundesrat ist auch ein Ort des parteipolitischen Ringens um Macht. In der späten Ära Kohl konnte eine Mehrheit der SPD-geführten Länder sehr effektiv Projekt der schwarz-gelben Bundesregierung blockieren. In der folgenden rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder wiederholte sich das Spiel mit umgekehrten Vorzeichen: die Unions-geführte Mehrheit im Bundesrat hat der Bundesregierung bei wichtigen Reformprojekten erhebliche Änderungen aufgezwungen.

Beiden Kanzlern und ihren Parteien und Koalitionspartnern war es so am Ende ihrer Regierungszeit nicht mehr möglich, den Entscheidungen klar ihren Stempel aufzudrücken und sich so den Bürgerinnen und Bürgern mit der Umsetzung einer bestimmten politischen Richtung zur Wiederwahl zu empfehlen. Schröder wie Kohl wurden als Kanzler wahrgenommen, die nicht mehr voll steuerungs- und handlungsfähig waren. Im Falle Schröders waren es nicht nur die parteiinternen Konflikte, die zu frühzeitigen Neuwahlen geführt haben – es war auch der Verlust von immer mehr Stimmen im Bundesrat und am Ende auch das Kippen der Mehrheit im Vermittlungsausschuss, das es der Opposition ermöglicht hätte, auch bei den Einspruchsgesetzen ein Veto durchzudrücken.

Die Aussichten für die Ampel stehen auf bunt

Die kommende Bundesregierung sieht sich – wie auch schon die heutige – einem bunt durchmischten Bundesrat gegenüber. In 16 Ländern gibt es aktuell 13 Regierungskonstellationen, mit je eigener Kombination aus Führungspartei und Partner(n).

Es gibt nach Stand heute mit Hamburg und Rheinland-Pfalz gerade einmal zwei Länder, in denen nur Parteien die Koalition bilden, die auch an der geplanten Ampel im Bund beteiligt sind. Für Zustimmungsgesetze einer Regierung Scholz hieße das: Nur sieben Stimmen können bei Zustimmungsgesetzen als sicher gelten, es fehlen als bis zur Mehrheit weitere 28. Bei den Einspruchsgesetzen sieht es deutlich besser aus: Durch die Mitbeteiligung mindestens eines Ampel-Partners können die Stimmen von 15 Ländern auf „Enthaltung“ gestellt werden und so ein Einspruch abgewehrt werden.

Die wichtigste Nachricht für die neue Koalition im Bund ist, dass selbst bei ungünstigsten Ergebnissen in den Ländern in der 20. Wahlperiode des Bundestages vor Anbruch des nächsten Wahlkampfes keine Einspruchsmehrheit der Opposition zustande kommen kann. Und selbst für ein sehr spätes Drehen in diese Richtung bräuchte es schon fast revolutionäre elektorale Entwicklungen.

Das Erreichen einer eigenen Mehrheit im Bundesrat für die Parteien der Ampel ist tatsächlich greifbarer. Damit aus den sicheren sieben Bundesratsstimmen die erwünschten 35 Stimmen werden können, bedarf es „nur“ schwieriger, aber eben nicht unmöglicher Siege in den kommenden Landtagswahlen. Das hat vor allem damit zu tun, dass eine lagerübergreifende Konstellation wie die Ampel bei entsprechender Einigkeit und Begeisterung für das gemeinsame Arbeiten in fast allen Ländern die Union aus der Landesregierung fernhalten könnte.

Im Detail: Werden Schwerin und Berlin ebenfalls zu Ampel-Hauptstädten, hätte eine Regierung Scholz schon 14 befreundete Stimmen im Bundesrat. Im kommenden Jahr wählen Schleswig-Holstein, Niedersachsen und NRW. Dort regiert jeweils ein (oder zwei) Ampel-Partner mit der CDU. Das Potential, in den Landtagen in Kiel, Düsseldorf und Hannover rot-grün-gelbe Mehrheiten zu erreichen, ist definitiv da. Gelingt das, wären schon 30 Stimmen im Bundesrat auf der sicheren Seite.

Hier beginnen dann die größeren Herausforderungen: Bei der ebenfalls 2022 anstehenden Wahl an der Saar dürfte wegen der notorischen Schwäche von FDP und Grünen eine Wachablösung deutlich schwieriger zu bewerkstelligen sein. Zudem erbrächte sie nur drei weitere Stimmen im Bundesrat, zur Mehrheit fehlten weiterhin zwei.

Erst im Herbst 2023 bestünde dann die Chance mit Wahlerfolgen in Bayern (kaum vorstellbar) oder Hessen (schwer, aber nicht unmöglich) die entscheidenden weiteren Stimmen auf die eigene Seite zu ziehen. Der Joker einer etwaigen Neuwahl in Thüringen bietet den Bundes-Koalitionären nur wenig zusätzliche Hoffnung – hier müssten die zuletzt gemeinsam erreichten 18% schon fast verdreifacht werden, um auch in Erfurt eine Ampel zu errichten.

Ohnehin reichen diese nackten Zahlenspiele kaum aus. Denn sie gehen von einem engen Zusammenhalt und anhaltendem gemeinsamen Regierungswillen von Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen aus, von der Unerheblichkeit regionaler Präferenzen und Traditionen – und vor allem: von einer anhaltenden Schwäche der Union.

Auf eine solche Schwäche sollte sich aber kein Planer verlassen. Selbst nach der krachenden Niederlage 1998 und inmitten einer Phase der Neuorientierung gelang der CDU in Hessen ein Wechsel von Rot-Grün zu Schwarz-Gelb und erhöhte damit die Zahl der von der Opposition im Bund beeinflussten Stimmen auf 36 – die eigene Zustimmungsmehrheit von Rot-Grün war nach wenigen Monaten dahin.

Oder ist der Bundesrat doch nicht so wichtig?

In den 1990er Jahren und der ersten Hälfte der 2000er Jahre war der Bundesrat ein klares Instrument der politischen Opposition und Gegenpol im Streit der politischen Lager. Entsprechend kam es in Helmut Kohls letzte Wahlperiode als Kanzler zu 92 Anrufungen des Vermittlungsausschusses, in den sieben Jahren der Ära Schröder wurde das Gremium 179-mal bemüht.

In der 18. und 19. Wahlperiode – den Jahren der Großen Koalition – gab es hingegen insgesamt ganze 10 Vermittlungsverfahren. Das ergibt sich logisch aus der Tatsache, dass zu jeder Zeit immer mindestens eine der Berliner Regierungsparteien auch in jedem Bundesland mitregierte und so Einsprüche der jeweiligen Länder verhindern konnte. Aber es gelang CDU und SPD auch, ihre Partner in den Ländern zur Zustimmung zu den allermeisten Gesetzen zu bewegen – FDP und Grüne zogen es dort meist vor, nicht permanent den Koalitionsfrieden zu stören.

Was ist nun die Prognose für die kommenden vier Jahre? Länder, in denen die CDU Koalitionspartner ist, könnten natürlich versucht sein, möglichst oft die Zustimmung zu Bundesgesetzen zu verwehren. Ihre meist kleineren örtlichen Partner könnten sich schwertun, sie wieder und wieder umzustimmen. Allerdings darf die Union auch nicht riskieren, den Bogen zu überspannen. Um die Jahrtausendwende verband sich mit der Verweigerung der Zustimmung durch ein politisches Lager immer auch eine klare Alternative zur vom jeweils anderen Lager getragenen Bundesregierung. Die Wählerinnen und Wähler konnten sich ein klares Bild machen und bei der nächsten Bundestagswahl die jeweiligen „Blockierer“ zur Bundesregierung machen – und genau das haben sie auch getan. In der sehr vielgestaltigen politischen Landschaft in den Ländern und mit einer lagerübergreifenden Bundesregierung ist diese Alternative nicht mehr so klar erkenn- und wählbar.

Die Union kann also in der neuen Wahlperiode durchaus selbstbewusst ihre derzeitige Stärke in den Ländern nutzen, um über den Bundesrat mitzugestalten. Sie wird aber einen Blockadekurs nicht durchstehen können. Die Ampel-Bundesregierung hingegen wäre gut beraten, mögliche Kritik sanft abzuwehren, um keine Kampfsituation entstehen zu lassen. Das sollte durch ihren eigenen lagerübergreifenden Charakter auch nicht allzu schwerfallen.

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