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Können Grüne Kanzlerinnen-Wahlkampf?

Annalena Baerbock

Berlin, den 22.04.2021, Autor: Tilo Fuchs

Zu Beginn der Woche haben die Grünen erstmals eine Kanzlerkandidatin nominiert. Auf den ersten Blick ist das ein logischer Schritt: Die Wählerinnen und Wähler sind der Großen Koalition überdrüssig, die Zeit für etwas ganz Neues könnte durchaus gekommen sein. 

Die Umfragezahlen geben den Grünen recht: Seit Herbst 2018 liegt die Partei in den Umfragen vor der SPD und kann sich über Werte um 20% freuen, phasenweise auch deutlich mehr. In dieser Lage wäre es verwunderlich, wenn man keine Kandidatin aufstellen würde – kampflos den anderen das Feld zu überlassen gehört nicht zur Logik von Politik. Schon gar nicht, wenn die Amtsinhaberin sich zurückzieht und ihre Partei sich schwer tut mit der Nachfolgeregelung.

Es gibt aber auch einige Hürden, vor denen das Projekt „Grünes Kanzleramt“ steht. Wie Guido Westerwelle 2002 schmerzhaft erfahren musste, kann der Kandidat einer Partei, die bisher nicht als erste Kraft galt, schnell zum Gespött der Berichterstattung werden. Das Aufweichen der dominanten Position von Union und SPD mag in den letzten 20 Jahren die Voraussetzungen verbessert haben, aber es bleibt dabei, dass eine Kandidatin, die nicht von CDU oder SPD kommt, ein Novum ist und spezifischen Widerspruch provozieren kann. 

Diese Erfahrung haben auch die Grünen selbst schon gemacht: Als sie in einer ähnlich aussichtsreichen Umfragesituation und angesichts ähnlich geschwächter Konkurrenz im Jahr 2011 in Berlin mit Renate Künast das Wahlziel „Platz 1“ ausgaben, sahen sie sich einer Debatte gegenüber, die die Statthaftigkeit eines solchen Ziels hinterfragen wollte. 

Worauf kommt es bei den Grünen also an, damit im Herbst 2021 die Frau ins Amt kommt – und sie nicht darauf warten müssen, dass das Amt zu ihr kommt, wie es der bisher einzig erfolgreiche Kämpfer um den Chefposten, Winfried Kretschmann, einst ausgedrückt hatte?

Die Kandidatin – zeitgemäß oder zu unerfahren?

Schon als im Vorfeld der Nominierung, als ganz Berlin-Mitte zur Frage „Habeck oder Baerbock“ in die Glaskugel schaute, kam immer wieder die Frage auf, ob eine relativ junge Frau ohne Erfahrung in der Exekutive von den Wählerinnen und Wählern akzeptiert würde. 

Die Antwort ist ein eindeutiges „es kommt darauf an.“ Wenn im Wahlkampf Themen wie Krisenkompetenz oder Konflikte mit autoritären Staatsoberhäuptern in den Mittelpunkt rücken, kann die fehlende Erkennbarkeit als Regierungsführerin ein Nachteil werden. Der Rückzug von Angela Merkel und der Nachfolgestreit spielen der grünen Kandidatin hier aber in die Karten. 

Annalena Baerbock muss sich nicht mit einer erfolgreichen Amtsinhaberin vergleichen lassen, sondern kann durch Sachkompetenz und persönlichen Auftritt ein eigenes Bild von einer Kanzlerin für die Zukunft definieren. Fehlende Präsenz in vorangegangenen Kabinetten bedeutet auch ein Aufbruchssignal und öffnet den Weg, wichtige Eigenschaften wie „zukunftsgewandt“ für sich zu besetzten. 

Die Partei ist geeint – die Wählerschaft auch?

Seit ihrer Übernahme der Parteiführung Anfang 2018 haben Baerbock und Habeck es geschafft, die Partei samt ihrer Gremien, Flügel, Fraktionen und Landesministerinnen und -minister zusammenzubringen und zusammenzuhalten. Das Ziel, nach fünfzehn Jahren Opposition wieder zu regieren eint die Partei ebenso wie das wieder gewonnene Verständnis, dass jede Regierung mit Grünen besser ist als eine Regierung ohne Grüne. Erleichtert haben diese Tendenzen das explosive Mitgliederwachstum und die Erfolge bei Landtagswahlen. Grüne regieren in elf Ländern mit – und sie tun es gerne. 

Die Zeiten, in denen die Hälfte der Basis sich eher die Oppositionsrolle wünschte, um dir programmatische Reinheit zu wahren, scheinen also vorbei. Die Wählerinnen und Wähler honorieren es bisher – aber wenn es auf die Zielgerade geht, können sich doch noch einmal Risse auftun. Während die Mitglieder und die Funktionärinnen und Funktionäre absehbar den Zusammenhalt bewahren werden, könnten sich das in der Wählerschaft anders verhalten. Da gibt es diejenigen, die vor allem Grün wollen – aber auch die, die zwar die Grünen im Amt sehen wollen, aber auch vor allem Union und FDP in der Opposition. Das ist angesichts einer zu erwartenden lagerübergreifenden Dreier-Koalition eine schwere Hypothek, denn nicht wenige Wählerinnen und Wähler könnten am Ende ihr Kreuz bei der SPD machen, um ein Zusammengehen mit der ungeliebten Union zu verhindern.

Organisation ist Macht – aber ist sie auch belastbar?

So umfassend der aktuelle Bundesvorstand an der Modernisierung der Parteiorganisation gearbeitet hat, es lässt sich nicht übersehen, dass die Grünen bis vor kurzem noch eine relativ kleine Partei waren. Das Mitgliederwachstum lässt vielerorts die Strukturen und die geübte Praxis des Parteialltages ächzen. Das dürfte im Wahlkampf aber durch das Bereitstehen viele begeisterter Aktivistinnen und Aktivisten überlagert werden.

Schwieriger ist es im Zentrum der Kampagne. Zu Zeiten der letzten rot-grünen Bundesregierung war immer wieder vom fehlenden strategischen Zentrum die Rede. Auf der Ebene Sinne der politischen Leitungsstrukturen ist dieses von Baerbock, Habeck und Bundesgeschäftsführer Michael Kellner weitgehend geschaffen worden. 

Offen bleibt aber die Frage, ob die Partei schon bereit ist, den logistischen und organisatorischen Teil eines Kanzlerinnenwahlkampfs zu stemmen. Dank Mitgliederzustrom und guten Wahlergebnissen ist das Geld dafür da. Aber die fehlende Erfahrung kann trotzdem zum Hemmnis werden. Grüne auf Landesebene mussten schon erfahren, dass die Erwartungen von Medien und Öffentlichkeit andere sind, wenn man den ersten Platz erringen will. Der Kommunikationsstil einer Partei, die sich immer als Themen- und Inhaltepartei verstanden hat, bedarf da der Anpassung. Bisher ist offen, ob es den Grünen gelingt, hier schnell das Nötige dazu zu lernen.

Mit Inhalten überzeugen – ist das überzeugend?

Einen Klimawahlkampf können die Grünen gewinnen – und gewissermaßen von vorne anführen. Kommt es dazu, werden sich die Koalitionsparteien schwer tun, gegenzuhalten. Aber können Idealismus und Inhalte wirklich die nötigen Wechselwählerinnen und -wähler erreichen?

Viele Grüne sind aus Überzeugung für die Bedeutung ihrer Themen dabei – insbesondere wegen der Bekämpfung des Klimawandels. Das zeigt aber auch: Erst kommt die Gewissheit, dass ein anderes politisches Handeln gefragt ist, dann kommt als logische Konsequenz die Wahl der Grünen. Um diesen Effekt im großen Stil umzusetzen, müsste es den Grünen gelingen, bei sehr vielen Menschen ein politisches Problembewusstsein in eine innere Überzeugung zu verwandeln – eine kaum umsetzbare Aufgabe. Für den alternativen Weg – Menschen pragmatisch und sachlich anzusprechen – müssen den Grünen die richtigen Kommunikationsmittel erst noch einfallen. 

Noch komplizierter ist die zweite Dimension des Kanzlerinnenwahlkampfs: Die eigene politische Führungsfähigkeit in den Vordergrund zu stellen. Viele Menschen entscheiden sich anhand ihrer Antwort auf die Frage „Es ist Krise und Katastrophe – wem traue ich zu, dann das richtige für das Land zu tun?“ Und dazu muss eine Kandidatin eben auch vermitteln, dass sie verlässlich ist, gelassen, weitsichtig und vertrauenswürdig. Joschka Fischer ist das immer gelungen, auch Winfried Kretschmann ist in dieser Disziplin ein Meister. Den beiden gelang es aus eigener Kraft, die Grünen als Partei haben nach wie vor wenig Übung darin. 

Die Partei wird Annalena Baerbock als Anführerin einer Bewegung zur aktiveren Klimapolitik positionieren. Ihre Positionierung als Kanzlerin wird sie wohl selbst entwickeln und erzählen müssen. Gelingt ihr das, kann durchaus auch das Kanzleramt zur Kandidatin kommen. 

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